Rheinischer Merkur 22.04.2010

„Der Zuschauer braucht eine Haltung“

In der Nähe wird ein Spatz erschossen, in der Ferne stirbt ein deutscher Soldat. Philip Scheffner wagt bizarre Verbindungen
Am 14. November 2005 wird im niederländischen Leeuwarden ein besonderer Spatz erschossen. Er war in eine streng bewachte Halle eingedrungen, in der ein Fernsehsender Millionen Dominosteine für den sogenannten „Domino Day“ aufgebaut hatte. 23 000 dieser Steine fielen durch die Flügelschläge des Vogels um, dann wurde der Kammerjäger gerufen. Am selben Tag starb in Kabul ein deutscher Soldat infolge eines Selbstmordattentates. Der Berliner Regisseur verbindet diese beiden Ereignisse in seinem Film „Der Tag des Spatzen“. Mit den Methoden des Tierbeobachters macht er sich auf die Suche nach der Sichtbarkeit des Krieges in Deutschland. Was merkwürdig klingt, funktioniert. „Der Tag des Spatzen“ lässt durch seine ruhige Machart den Zuschauer nicht nur einen neuen Blick auf den Allerweltsvogel Sperling finden. Er transportiert vor allem eine drängende, fragende Unsicherheit: Wenn am Hindukusch Krieg geführt wird, was dringt davon nach Deutschland durch? Wen interessiert das ferne Geschehen überhaupt? „Der Tag des Spatzen“ lief im Forum der diesjährigen Berlinale, ebenso wie Scheffners vorherige Arbeit „The Halfmoon Files“ im Jahr 2007.

Interview: Jan Sternberg
RM: Sie wollen mit den Mitteln der Vogelbeobachtung Aussagen über den Afghanistan-Krieg treffen. Ein solch politischer Naturfilm ist nicht alltäglich. Wie verbinden sich Naturfilm und Politik?
Philip Scheffner: Es stimmt schon, die Verbindung von Politik und Naturbeobachtung wirkt bizarr. Wir sind ausgegangen von der Situation dieser beiden Nachrichten von zwei Ereignissen, die am gleichen Tag außerhalb Deutschlands stattfinden und dann den Regisseur in Deutschland erreichen: Im niederländischen Leeuwarden wird ein Spatz erschossen. Und in Afghanistan wird ein deutscher Soldat erschossen. Diese beiden Nachrichten gehen, ob man will oder nicht, eine Verbindung ein. Dann schaut man aus dem Fenster, und was man sieht, ist nicht der Krieg, sondern ein Spatz.
RM: Sie besuchen in Ihrem Film Orte wie den Truppenübungsplatz Hohwacht an der Ostsee, direkt daneben haben Sie als Kind ihren Sommerurlaub verbracht und Vögel beobachtet. Sie fahren zum Einsatzführungskommando der Bundeswehr nach Geltow bei Potsdam, zum Amt für Geoinformationswesen in Traben-Trarbach an der Mosel. Überall zeigen Sie Landschaften und Vögel, aber den Krieg finden Sie dort nicht. Wo ist er?
Scheffner: Wenn man das inzwischen klassische Zitat aus dem Jahre 2002 des damaligen Verteidigungsministers Peter Struck – „Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt“ – weiterdenkt, müsste man doch hier auch etwas davon sehen können. Dem wollten wir nachgehen. Diese Sichtbarkeit kann man am besten über die Ränder herstellen, über Landschaften, die Verbindung von Bundeswehr und Landschaft. Der Tierfilm nimmt für sich in Anspruch, naiv zu sein, geschichtslos. Im Tierfilm geht es nur um den Spatzen. Bei uns geht es zudem darum, was an den Rändern passiert – als würde man einen Tierfilm aus den 1970er-Jahren gucken und plötzlich am Rand eine Demonstration sehen.
RM: Als Sie mit der Arbeit am Film begannen, wurde der Afghanistan- Einsatz der Bundeswehr offiziell nicht als Krieg bezeichnet. Das hat sich in den vergangenen Wochen geändert. Hat die Realität den Film eingeholt? Ist es weniger provokant geworden, von Krieg zu sprechen, wenn der Verteidigungsminister das Wort auch benutzt?
Scheffner: Nein. Denn es gibt Abstufungen. Es ist ein Unterschied, zu sagen: Deutschland ist an einem Krieg beteiligt, oder zu sagen: Deutschland führt Krieg, oder: Deutschland befindet sich im Krieg. Wenn man Letzteres sagt, hat es etwas mit mir, mit hier zu tun. Es ist ein sehr guter Kreuzungspunkt entstanden zwischen der Realität und dem Film.
RM: Die Bundeswehr hat die Zusammenarbeit mit Ihnen abgelehnt. Das wird im Film thematisiert, durch lange Diskussionen zwischen Ihnen und den Pressesprechern. So machen Sie eine Leerstelle sichtbar und fügen etwas Neues hinzu.
Scheffner: Die einzelnen Dienststellen hätten alle gerne mit uns zusammengearbeitet, haben dann aber eine Order aus dem Bundesverteidigungsministerium bekommen. Ich hätte es interessant gefunden, so eine Diskussion vor der Kamera zu führen – die wir ohne Kamera geführt haben. Es passt aber wunderbar, wenn eines der Hauptthemen des Films die Frage der Sichtbarkeit ist.
RM: Schon in Ihrem Film „The Halfmoon Files“ von 2007 machen Diskussionen um Drehgenehmigungen, in dem Fall in Indien, einen wichtigen Teil des Films aus. Ist das eine Masche?
Scheffner: Das ist keine Masche von mir. Es ist mir wichtig, dass das nicht als mein Kunstgriff rüberkommt. Es war mir ernst, mit der Bundeswehr zu sprechen.
RM: Sie sagen, es finde eine „schleichende Militarisierung“ der Gesellschaft statt. Wie meinen Sie das?
Scheffner: Wir haben inzwischen viele tausend Veteranen, die von Auslandseinsätzen zurückkehren. Deren Kriegserfahrungen werden integriert in eine Gesellschaft. Das verändert das Kollektivbewusstsein und führt zu einer Normalisierung. Auch bei der Verwendung von Begriffen …
RM: … wie dem Wort „gefallen“, das jetzt nach 65-jähriger Pause wieder überall gebraucht wird. Wofür aber brauchen Sie den Spatz, um über den Krieg zu sprechen?
Scheffner: Es gibt einen Zusammenhang zwischen Vogelbeobachtung und Filmemachen, speziell solcher Dokumentarfilme. Man verhält sich still, wahrt Distanz, holt Dinge mit dem Fernglas ganz nah heran. In Dokumentarfilm und Ornithologie gilt gleichermaßen, je weniger man sichtbar ist, je besser man sich tarnt, desto besser ist das Ergebnis. Das funktioniert beim Vogelbeobachten jedoch nie. Du bist immer zu laut, der Vogel bemerkt dich, du versuchst es, aber es ist immer ein Scheitern. Beim Film ist es die entscheidende Frage, wie lange man die distanzierte Haltung aufrechterhalten kann.
RM: Sie geben die Distanz schließlich auf. Ein Protagonist ist ein Bekannter von Ihnen, der verurteilt wurde, weil er einen Anschlag auf Bundeswehrfahrzeuge verübt haben soll.
Scheffner: Uns war wichtig, dass nicht gesagt wird, weswegen er festgenommen wurde, damit man ihm zuhört. Erst am Ende des Films wird gesagt, warum er verurteilt wurde. Ob er das gemacht hat, ob er Mitglied dieser Gruppierung ist, wird nicht thematisiert. Ich kenne kaum einen Film, in dem ein politischer Aktivist auf die Art und Weise spricht.
RM: Der Anschlag ist gescheitert. Hätte es für Sie einen Unterschied gemacht, wenn die Wagen gebrannt hätten?
Scheffner: Nein. Es gibt für mich einen großen Unterschied zwischen Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Menschen.
RM: Ist der Aktivist ein Vorbild für Sie?
Scheffner: Nein, diese Frage stellt sich für mich nicht. Man beobachtet und wird dann mit einer Haltung konfrontiert. Man muss nicht einer Meinung sein, deswegen war es für uns auch wichtig, dass es nicht ganz am Schluss steht. Wichtig war, dass es pointiert wird, dass es dringlich wird, dass der Zuschauer eine Haltung entwickeln muss. Nicht diese, aber eine Haltung. Wir wollten, dass der Film an dieser Stelle kollabiert. Ich weiß, dass der Film ohne diese Szene im Feuilleton wesentlich bessere Chancen hätte.